Ein Dorf macht sich unabhängig
Wettesingen ist das erste Bioenergiedorf Deutschlands, das komplett auf fossile Brennstoffe verzichtet
VON KATHARINA ENGELHARDT (NW vom 12.09.2015)
Wettesingen. Das Dorf ist nicht sonderlich groß, 1.200 Einwohner und 360 Haushalte hat es. Und sonst: kein Lebensmittelmarkt, keine Kneipe oder Wirtschaft. Wettesingen wirkt wie ein Durchfahrtsort, irgendwo zwischen Calenberg und Breuna. Und trotzdem kommt es zurzeit richtig groß raus – als Deutschlands erstes und einziges Bioenergiedorf, das zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien setzt. Das Fernsehen kommt zu Besuch, sogar japanische Reisegruppen waren vor Ort, um sich über die Technik zu informieren.
Die Wettesinger sind komplett unabhängig: Teures Heizöl und schwankende Energiepreise müssen die 198 Mitglieder der Wettesinger Energiegenossenschaft (WEG) nicht mehr fürchten. Sie haben ihre Energieversorgung selbst geregelt und beheizen ihre Haushalte ausschließlich mit erneuerbaren Energien. Auch bei hohem Verbrauch, der sogenannten Spitzenlast, verzichten die Wettesinger darauf, fossile Brennstoffe wie Ãl oder Gas zuzuschalten. „Entweder, wir machen es richtig oder gar nicht“, formuliert Dieter Hösl, 47, Vorsitzender der Genossenschaft, die Haltung der Bioenergiegenossen.
Das gesamte Energiekonzept steht auf mehreren Säulen: der Biogasanlage mit einem angeschlossenem Blockheizkraftwerk, der Heizzentrale, in der in drei großen Ãfen Holzpellets verbrannt werden sowie einem weiteren Blockheizkraftwerk. Die Biogasanlage wird von BBB Biogas Breuna betrieben, das produzierte Gas kauft die WEG ab und wird direkt dem Blockheizkraftwerk der Energiegenossenschaft zugeführt. Hier werden damit Strom und Wärme produziert. Dass es ausschließlich Landwirte aus der Region sind, die für die Biogasproduktion Kuhmist und Mais anliefern, ist der Genossenschaft wichtig. „Wir wollen nachhaltig sein“, sagt Dieter Hösl, und dazu gehöre es auch, regionale Zulieferer zu unterstützen. Der erzeugte Strom wird ins Netz eingespeist, die Wärme gelangt dann als 80 Grad warmes Wasser über das Nahwärmenetz an die angeschlossenen Haushalte. Hierfür wurden insgesamt 10.320 Meter Stahlrohr im Dorf verlegt – gleichzeitig wurden die Bautätigkeiten genutzt, um Glasfaserkabel zu verlegen. „Uns stehen jetzt hier 100-Mbit-Leitungen zur Verfügung“, sagt Hösl sichtlich zufrieden. Von insgesamt 360 Haushalten im Ort werden zurzeit 209 sowie eine Gärtnerei als Großabnehmer mit der WEG-Energie beliefert – das sind mehr als 50 Prozent. Auch die Gemeinde Breuna ist an der WEG beteiligt. Die Mitgliedschaft ist natürlich freiwillig, eine Neuaufnahme in die Genossenschaft kostet heute 4.500 Euro.
Die Idee zur eigenen Energieversorgung im Dorf entstand 2009, als eine Handvoll Wettesinger genug vom ewigen Auf und Ab der Energiepreise hatte. In Arbeitsgruppen wurde monatelang und oft bis in die Nächte hinein diskutiert und nach dem passenden Verfahren gesucht. Dieter Hösl war als einer der ersten Aktiven dabei. „Wir hatten im Laufe der Zeit gut 40 Szenarien entworfen, die wir alle durchgespielt haben“, sagt er. Die einzige Bedingung für das Konzept: der Verzicht auf fossile Brennstoffe, und zwar auch in Verbrauchsspitzen. Deshalb holte die 2011 gegründete Genossenschaft das Heiztechnikunternehmen Viessmann mit ins Boot. Gemeinsam mit der WEG entwickelte die Firma als Generalunternehmer das Konzept zur heutigen Anlage. 2011 wurde das BHKW gebaut, kurze Zeit später folgte der Um- und Ausbau der Biogasanlage, 2013 der Bau des Nahwärmenetzes sowie der Heizzentrale mit den Pelletöfen und zwei großen Pufferspeichern. Diese Speicher halten 120.000 Liter beziehungsweise 36.000 Liter warmes Wasser bereit, das in hohen Verbrauchszeiten schnell verfügbar ist und zügig in die Leitungen gepumpt werden kann.
5,7 Millionen Euro hat die Anlage komplett gekostet. Heute ist ein Vorzeigeprojekt daraus geworden, an dem auch einstige Skeptiker nicht mehr viel schlechtreden können. „Wir können jeden Tag beweisen, dass es funktioniert“, sagt Hösl. Und das tut es. Der Wärmeverlust ist minimal, die Leitungen sind sicher und der Betrieb ist ausfallfrei dank der drei kombinierten Techniken – nur der Preis dürfte sich gerne noch etwas nach unten korrigieren. Die Wärme kostet die WEGler zurzeit etwa 8,17 Cent je Kilowattstunde. Heizöl kostet momentan rund 10 Cent. „Wir hatten ursprünglich mit einer deutlicherem Unterschied gerechnet“, sagt Dieter Hösl. Aber da das Heizöl zurzeit im Keller sei, falle die Ersparnis noch nicht so deutlich aus. „Früher oder später ziehen die Ãlpreise aber wieder an“, ist sich Hösl sicher.
Die komplexe Anlage wird von der Heizzentrale am Dorfrand aus gesteuert. Fünf Mitglieder, darunter Dieter Hösl, haben sich mit der Technik soweit vertraut gemacht, dass sie den Betrieb allein stemmen können. Nur in seltenen Fällen müssen einen Techniker hinzuziehen. Sie kennen die Maschinen, die Verbrauchsspitzen ebenso. „Nach der Sportschau wollen erst mal alle auf die Toilette oder duschen“, weiß Dieter Hösl. Dann muss viel und schnell Energie breitstehen. Jeweils einer übernimmt für eine Woche den Betriebsdienst, kontrolliert die Daten, bekommt Fehlermeldungen sofort aufs Handy und muss dann notfalls zur Zentrale fahren. „Das kommt aber sehr selten vor“, sagt Dieter Hösl. „Die Anlage ist wenig störanfällig.“